Olivia Schmid - 16. Februar 2023-

Das Zeitalter der multiplen Krisen

Krisen als Chance zur Weiterentwicklung der Gesellschaft oder Verhärtung von Ungleichheiten?

Der Krisenbegriff in der Soziologie

Krise ist ein sehr vielfältiges Phänomen, wenn man bedenkt, wo überall Krisen ausgerufen werden. In den letzten Jahren hat die Aufmerksamkeit für Krisenerscheinungen auch in der Soziologie massiv zugenommen. Seit den 1960er Jahren, und besonders ab 2006, wurde zu Krisen verstärkt geforscht. Krisen werden im Allgemeinen als „plötzliches Auftreten massiver Probleme, die nicht ohne größere Schwierigkeiten gelöst werden können“ beschrieben. Wissenschaftliche Krisen werden dabei als wissenschaftliche Revolutionen und politische Krisen als Umbrüche im Herrschaftssystem definiert. Hierbei werden Krisen sowohl als Zustand als auch als Prozess gesehen.

Stephan Lessnich, Professor für Soziologie an der Universität München, beschreibt den Höhepunkt der Finanzkrise als eines der eindrücklichsten Beispiele einer Krise in den letzten 25 Jahren. Während der Krisenbegriff von Stephan Lessnich als dramatische Zuspitzung beschrieben wird, versteht der Professor für Soziologie an der Universität Trier, Martin Endreß, Krise als eine Umbruchsituation. Bewährte soziale Verhaltensmuster und Einstellungen greifen nicht mehr und es endet in einer „Krise der Routinen“.

Krise als Katastrophe oder Anlass für sozialen Wandel?

Die COVID-19 Pandemie hatte uns die letzten drei Jahren im Griff und kann als soziale Krise verstanden werden. Doch auch schon vor der COVID-19 Pandemie gab es Krisen in gewissen gesellschaftlichen Bereichen und es wird sie auch nach dieser Pandemie geben. Die Liste von Krisenszenarien reicht von Finanz- und Schuldenkrisen, Staatskrisen, Familienkrisen bis zu Krisen der Öffentlichkeit. Aufgrund der strengen Auflagen der Regierungen liegt, sogar global gesehen, die Wirtschaft am Boden. Doch welche Auswirkungen hat das auf unsere Gesellschaft? Werden wir aus dieser Krise gestärkt hervor gehen oder wird die globale Ungleichheit so enorm sein wie nie zuvor?

Krisen enden nicht zwangsläufig in einer Katastrophe: Wenn sie gemeistert werden, fühlen sich die Betroffenen stärker als zuvor. Ebenso können Krisen eine Chance darstellen, gesellschaftliche Strukturen oder Verhalten in Zukunft zu ändern. Die Universität Bielefeld und SOEP/DIW Berlin haben eine Studie veröffentlicht, in welcher das Leben der deutschen Bevölkerung und in Deutschland Lebenden unter den Corona-Beschränkungen erforscht wurde. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Zufriedenheit mit einer Demokratie steigt, ebenso das zwischenmenschliche Vertrauen. Die Krise wird als Chance gesehen, da der gesellschaftliche Zusammenhalt wächst. Jedoch werden Ungleichheiten auch verstärkt und es gibt eindeutige Risikogruppen: Frauen, Alleinerziehende, Selbständige und Personen mit einem niedrigen sozioökonomischen Status. Familien mit Kindern sind sogenannte „hot spots“ der Krise.

Die Klimakrise – Wir steuern auf eine Katastrophe zu

Der Begriff „Klimawandel“ ist in Aller Munde – jedoch sollte viel eher von einer Klimakrise gesprochen werden. „Wandel“ klingt viel zu positiv und verharmlost die globale Situation. Dass die Welt sich in einem Wandel befindet, stimmt – jedoch viel mehr in einer Krise.
Die Klimakrise äußert sich in direkten Auswirkungen wie u.a. Temperaturveränderungen, wobei Hitze und Hitzewellen besonders häufig vorkommen, welche auch in Waldbränden enden. Doch auch indirekte Auswirkungen, worunter die Ernährungs- und Wasserunsicherheit, (Infektions-)Erkrankungen und erhöhte Luftschadstoffbelastung zählen, werden durch die Klimakrise verstärkt. Nicht nur die globale Bevölkerung ist in Gefahr, sondern ebenso die Umwelt.

Zusammenfassung und Fazit

Allgemein kann gesagt werden, dass Krisen weder notwendig noch ausschließlich als Katastrophen zu begreifen sind. Krisen eröffnen Gelegenheitsstrukturen und beschreiben ein stets ambivalentes Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität. In einer Krise wird die soziale Ordnung durcheinandergebracht, erodiert oder maximal zerstört, aber auf jeden Fall zum Vorschein gebracht. Welche genauen sozialen Prozesse durch eine Krise angestoßen werden und was die Krise schlussendlich bewirkt hat, ist für jede unterschiedlich. Je nachdem wie an die Ereignisse angeschlossen wird kann eine neue soziale Ordnung aus den Irrtümern und Irritationen entstehen, oder sie bleiben weiterhin irrelevant.



Literatur:
Folkers, Andreas; Il-Tschung Lim. 2014. Irrtum und Irritation. Für eine kleine Soziologie der Krise nach Foucault und Luhmann. BEHEMOTH A journal on civilisation, 7 (1), 48-69.
Leusch, Peter. 2014. Der Begriff Krise ist eigentlich unbrauchbar. Deutschlandfunk. https://www.deutschlandfunk.de/soziologiekongress-der-begriff-krise-ist-eigentlich-100.html (Zugegriffen: 11.01.2023)
Liebig, Stefan; Simon Kühne. 2020. Drei Monate leben unter Corona-Beschränkungen: Ergebnisse aus der SOEP-CoV-Studie. Vortrag im Rahmen des Kolloquiums des WZB „Soziologische Perspektiven auf die Corona-Krise. SOEP/DIW Berlin und Universität Bielefeld. Mehr Information zu der Studie finden Sie unter https://www.soep-cov.de/.
Routinen der Krise – Krise der Routinen: Themenpapier zum 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. 2014: Trier.